Leseprobe:
Ich bin's, 
von Rainer Langhans

Alle waren fürchterlich aufgeregt. '68 lag in der Luft. Alle wussten, dass etwas passieren würde. Und dann zogen sich in paar Leute einfach zurück, anstatt draußen zu demonstrieren und immer wieder zu versuchen, die Massen zu erreichen, so wie Rudi sich das vorstellte. Sie zogen sich zurück und machten sich auf den Weg - in ihr eigenes Inneres. Sie haben ein Marathon-Encounter veranstaltet. Es war eine Implosion. Sie sind in sich reingekrochen und haben alles analysiert und hochgehen lassen, was an alten Erfahrungen da war. Und wollten erst mal sich selbst revolutionieren, bevor sie draußen wieder

herumrannten und schrien: Revolution! Revolution! In zwei, drei Monaten haben sie sich mit diesem Marathon-Encounter gegenseitig in all Einzelteile zerlegt und waren bald verrufen als Horrorkommune, weil sie sich diesen Horror selbst bereiteten. Sie wollten die Bürgerlichkeit mit aller Gewalt aus sich herausreißen. Drei Tage war ich nur da. Hinterher war mir, als wären es Monate gewesen. Die Erfahrung, die die anderen in drei Monaten gemacht hatten, wurde in drei Tagen an mir durchexerziert, in einer Verdichtung und Geschwindigkeit, dass mir Hören und Sehen verging. Es war die Erfahrung, dass es kein

Eigentum mehr gibt und keine klassischen Beziehungen und dass alles, was man an Verhaltensweisen, Mechanismen und Reflexen draufhat, leblos ist, ein Gefängnis, das das wirkliche Leben und Lieben verhindert. Das musste aufgesprengt werden. Es war an ganz simplen Sachen zu

sehen: dass jemand am nächsten Morgen mein Hemd anhatte. Mein Hemd! Jeder hatte in paar Sachen mitgebracht. Die lagen da herum, neben den Matratzen. Kein Privateigentum. Keine Zweierbeziehungen, die ja Eigentumsbeziehungen sind. Es waren Begegnungen jenseits von Sexualität. Gerade von den Frauen wurde ich nach Strich und Faden vorgeführt: Jeder Blick, jede Geste wurde analysiert und kritisiert. Ich stand unter ständiger Beobachtung von sieben Leuten. Es gab keine Privatsphäre, nirgends. Ich war niemals alleine. Wir alle waren Sucher, die aus ihren inneren Gefängnissen herauswollten - und mussten. Wir wollten ein anderes Leben in uns selbst entdecken, um es dann zu realisieren. Es war damals ganz klar: Kommune muss sein. Nicht

nur für ein paar Verrückte und Bohemiens und für eine gewisse Zeit als eine ganz interessante Sache, sondern Kommune ist überlebensnotwendig. Unsere Eltern steckten tief in uns drin, und wie sie gelebt hatten, die Unterordnung der Frau unter den Mann, die Lieblosigkeit, die darin enthalten war, das konnten wir unmöglich weiterführen. Nicht der Kapitalismus brachte den Massenmord hervor, sondern sein Kern. Und der Kern des Staates - da waren wir uns mit den Konservativen immer einig - war die Familie. Wenn wir überleben wollten, mussten wir diesen Kern grundlegend verändern. Dazu mussten wir das Unbewusste erforschen und als Ausgangspunkt von Politik nehmen. Wir wollten unbedingt wissen, wie der deutsche

Faschismus zustande kommen konnte. Was unsere Eltern getan hatten. Man hat sein Leben und alles, was man ist, von seinen

Eltern. Wenn man aber seine eigenen Eltern angreift, vernichtet man sich selbst. Unbewusst weiß man, dass man sich damit den eigenen Lebensfaden abschneidet. Keiner von uns hat sich getraut, konkret die eigenen Eltern anzugreifen. Das konnten wir nicht.

Rainer Langhans, 2008, Ich bin’s: die ersten 68 Jahre, 46 

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